Es wird immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.

Hermann Hesse

Im Alltag ergeben sich unzählige Situationen, in denen wir Beratung auf informellen Wegen suchen, geben oder empfangen. In freundschaftlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Einkaufen, in den Familien und vielen weiteren zwischenmenschlichen Interaktionen findet seit jeher häufig eine Form von Beratung statt. In solchen Alltagssituationen steht zumeist ein Austausch von Informationen aus dem Fundus persönlicher Erfahrungen und Wissensbeständen im Vordergrund.

Professionelle psychologische Beratung hingegen fußt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und stützt sich auf empirisch fundierte Theorien, Modelle und Methoden. Die Entstehung professioneller Beratung verlief parallel zur Entwicklung der Psychotherapie und ist historisch betrachtet eng mit dem Konzept der Psychoanalyse von Sigmund Freud und dem humanistisch geprägten Ansatz der Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers verbunden (Warschburger, 2009). Als heterogene Disziplin wird sie in Deutschland verschiedenen Bereichen, wie z. B. der klinischen Psychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie, der medizinischen Psychologie, der Gesundheitspsychologie, der Community Psychology oder der Rehabilitationspsychologie zugeordnet.

Je nach Anliegen und Kontext kann Beratung unterschiedliche Schwerpunkte haben. Dies kann beispielsweise die Informationsvermittlung, Anleitung, Aufdeckung von Ressourcen, Hilfestellung zur Problemlösung oder Klärung von Bedürfnissen sein. 

Das größte Problem in der Kommunikation ist, dass wir nicht zuhören, um zu verstehen. Wir hören zu, um zu antworten.

Marshall B. Rosenberg

Sickendiek und Nestmann (2018) definieren professionelle Beratung als „…Kommunikation über Fragen, Anliegen und Schwierigkeiten […] mit jemand inhaltlich Ausgewiesenem…“ (S. 218). Mit Hilfe solcher Expert_innen soll es gelingen „…die Ausgangssituation zu reflektieren, Perspektiven zu erweitern, angemessene Informationen und Lösungsmöglichkeiten zu finden, Entscheidungen vorzubereiten, Belastungen und Krisen besser bewältigen zu können und weitere Handlungsoptionen zu entwickeln.“ (S. 218). In einem solchen Gespräch sollen Ratsuchende offen sprechen können, sich wahrgenommen fühlen, in ihren vorhandenen Kompetenzen gestärkt werden und ressourcenorientierte Hilfe in ihrer Lebenssituation erhalten. Beratung bietet im Idealfall eine „Orientierungs-, Entscheidungs-, Planungs- und Handlungshilfe“ (S. 218). 

Bei der psychosozialen Beratung handelt es sich um eine professionelle Hilfeform, die entweder präventiv, akut problembewältigend oder rehabilitativ von qualifizierten Fachpersonen in einem dafür angemessenen Setting angeboten wird. Ein Austausch auf Augenhöhe soll Betroffene darin unterstützen, ihre Handlungs- und Bewältigungskompetenzen, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Problemlage und des vorhandenen Bezugssystems zu reflektieren, zu nutzen oder aufzubauen (Sickendiek & Nestmann, 2018).

Unterschied zwischen Beratung und Therapie

Beratung wird häufig in Lehrbüchern der klinischen Psychologie als Intervention vorgestellt und wird daher oft auch als „kleine Therapie“ aufgefasst. Durch das Psychotherapeutengesetz wird jedoch eine klare Trennung zwischen den beiden Interventionsformen gezogen. Während eine Psychotherapie dann angezeigt ist, wenn Diagnostik, Heilung oder Linderung von psychischen Störungen mit Krankheitswert angenommen wird, ist Beratung eher für normative Konflikt- oder Entscheidungssituationen oder nichtnormative Belastungssituationen wie die Bewältigung einer Krebsdiagnose angemessen. Dennoch sollten die beiden Disziplinen eher als einander ergänzend verstanden werden, zumal die Niederschwelligkeit von Beratungsangeboten den Zugang zu therapeutischer Unterstützung möglicherweise erleichtert.

Von allen Lebewesen auf dieser Welt kann nur der Mensch sein Verhalten beeinflussen. Nur der Mensch ist der Architekt seines Schicksals. Menschen können durch die Änderung ihrer inneren Einstellung auch die äußeren Aspekte ihres Lebens gestalten.

William James
Beratungsansätze

Es existiert eine große Vielfalt an Beratungstheorie und Variationsbreite von Praxismethoden, die sich aus unterschiedlichen psychologischen Schulen und Strömungen entwickelt haben (McLeod, 2004). Wenngleich es in der Vergangenheit Bestrebungen gab, durch eine Vereinheitlichung die Integration diverser Beratungsansätze zu ermöglichen, bleiben dennoch vier sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Verständnis vom Erleben und Verhalten des Menschen in der Beratungspraxis handlungsleitend – der psychodynamische, der kognitiv-verhaltenstherapeutische, der humanistische und der systemische Ansatz.

Die Kernannahmen des psychodynamischen Beratungsansatzes  fußen auf den Prämissen, dass emotionale Probleme ihren Ursprung in der Kindheit haben und es einen unbewussten Teil der menschlichen Psyche gibt, wo diese einflussreichen Erfahrungen verborgen sind (McLeod, 2004). Eine therapeutische Beziehung soll durch Übertragungsreaktionen, Träume und Fantasien die Entschlüsselung dieser unbewussten Erfahrungen ermöglichen. Die Beratungsperson hat nach dieser Auffassung die Aufgabe, unbewusste Inhalte aufzuspüren, zu deuten und Klient_innen dabei zu helfen eine Einsicht in diese Zusammenhänge zu gewinnen. Im Verlauf wurde dieser Ansatz um das Konzept der Objektbeziehungen[1] erweitert. Später rückte die aktive Arbeit mit der Gegenübertragungsreaktion der Therapeut_innen auf Klient_innen in den Mittelpunkt. Mit der Entwicklung eines neuen „Gesprächsmodells“ entstand in den 1980er Jahren ein moderner und innovativer psychodynamischer Ansatz. Bei dieser zeitlich begrenzten Therapieform wird der Macht der Sprache durch Metaphern, Ich-Botschaften oder Gefühlsworten sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. McLeod bewertet  dieses gemeinsame Entwickeln einer „Gefühlssprache“ als zukunftsweisendes Modell, das humanistische, existentialistische und psychodynamische Traditionen vereint und einen integrativen Ansatz ermöglicht.

Der kognitiv-verhaltenstherapeutische Beratungsansatz entstammt der behavioristischen- und Kognitionspsychologie (McLeod, 2004). Das Methodenrepertoire speist sich aus den lerntheoretischen Modellen zur klassischen Konditionierung und den Lerngesetzen zur operanten Konditionierung. Die Einsicht, dass Lern- und Veränderungsprozesse sehr viel kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten erfordern, trug dazu dabei, dass kognitive Elemente in den Beratungsprozess integriert wurden. Später wurde die Aufmerksamkeit der Klient_innen wieder stärker auf den inneren Dialog von Gedanken und Gefühlen gelenkt und durch konstruktivistische Prinzipien ergänzt. Auch wenn der kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz die Beziehungsebene zwischen Hilfesuchenden und Berater_innen wenig beachtet, stützen Forschungsergebnisse diesen weitverbreiteten Ansatz mit seinen instrumentellen Zielen und reichhaltigen Methoden.

Der personenzentrierte Beratungsansatz von Carl Rogers kann als humanistische Gegenbewegung und „Dritte Kraft“ zu den beiden oben dargestellten Therapieformen bezeichnet werden (McLeod, 2004). Theoretiker_innen plädierten dafür, sich im Beratungsprozess weniger auf Auswirkungen frühkindlicher Erfahrungen oder Verhaltensmodifikation zu konzentrieren, sondern momentanen Erfahrungs- und Erlebensprozessen von Ratsuchenden einen Raum zu geben. Die Wirksamkeit dieser non-direktiven Beratung „…besteht aus einer eindeutig strukturierten, gewährenden Beziehung, die es dem Klienten ermöglicht, zu einem Verständnis seiner selbst in einem Ausmaß zu gelangen, das ihn befähigt aufgrund dieser neuen Orientierung positive Schritte zu unternehmen.“ (Rogers, 2018, S. 28). Zentrale Annahme ist, dass der Mensch über ein Selbstkonzept verfügt und nach Selbstverwirklichung, Liebe und Wertschätzung durch andere strebt. Die personenzentrierte Arbeit wird von einer phänomenologischen Denkweise getragen und lebt vor allem durch die tragfähige Beziehung zwischen Berater_innen und Klient_innen, die durch ein hohes Maß an Wertschätzung, Empathie[2] und Kongruenz gekennzeichnet ist (McLeod, 2004). Empathie als Schlüsselelement der beratenden Beziehung wurde durch ein zyklisches Modell von G. T. Barrett-Lennard (1981) weiter elaboriert und verdeutlicht den prozesshaften Charakter dieser Haltung, die damit gleichzeitig auch zu einer Kommunikationsfähigkeit wird. Mit diesem „empathic attentional set“ (Barrett-Lennard, 1981, S. 93) wird vor allem die Gegenseitigkeit von Offenheit, Wertschätzung und Zuhören als sequentieller Prozess herausgearbeitet. Einflüsse aus der Gestalttherapie und der kognitiven Psychologie schlugen sich in den 1990er Jahren mit dem Prozess-Erfahrungs-Ansatz auf die humanistische Praxis nieder (McLeod, 2004). Der personenzentrierte Ansatz übt auch heute mit den größten Einfluss auf die Beratungspraxis aus und zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er auch mit Inhalten der psychodynamischen oder kognitiv-verhaltenstherapeutischen Tradition vereinbar ist.

Der systemische Therapie- und Beratungsansatz baut auf den Grundannahmen der Systemtheorie (Kybernetik erster und zweiter Ordnung) und dem Konstruktivismus auf. Damit eröffnet er eine ganz neue Perspektive auf das menschliche Handeln unter Berücksichtigung des sozialen Kontexts. Der Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage des systemischen Ansatzes bildet sozusagen den Gegenpol zum Realismus und geht davon aus, dass wir uns die Wirklichkeit durch unsere Gedanken und mentalen Aktivitäten selbst erschaffen (Willemse & von Ameln, 2018).  Systemische Beratung stellt in der Regel aktuelle Beziehungsmuster im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt der Betrachtung und fragt danach, wie sich Verhaltensweisen in einem System (Paar, Gruppe, Team, Familie, Organisation, etc.) gegenseitig beeinflussen und zur Stabilität von Problemen beitragen (Schwing & Fryszer, 2018). Ursachen für Probleme werden weniger als Defizite oder Eigenschaften eines Systemmitglieds verstanden, sondern viel eher als Wechselwirkung zwischen Problem/ Symptom und dem jeweiligen Kontext aufgefasst. Aus diesem Grund beschäftigen sich systemische Berater_innen weniger mit der Vergangenheit und der Suche nach den klassischen Ursache-Wirkungszusammenhängen, sondern suchen nach neuen Informationen, die einen Unterschied machen, die alte Sichtweisen verstören, veränderte Sichtweisen ermöglichen und den Blick für neue Wege öffnen. 

Unabhängig davon, welcher Beratungsansatz dominiert, schlägt McLeod (2004) vor, handlungsleitende Beratungsziele zu formulieren, die zur Einsicht, Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz, Selbstaktualisierung und Individuation, Problemlösung, psychologischen Schulung, Aneignung sozialer Fertigkeiten, kognitiven Veränderung, Verhaltensänderungen, systemischen Veränderung, Wiedergutmachung oder Empowerment beitragen können. Vor allem letztgenanntes Ziel wird als richtungsweisend für ein integratives Handlungskonzept der psychosozialen Beratungspraxis herausgestellt. Klient_innen sollen dabei unterstützt werden, ihre eigenen Fähigkeiten wahrzunehmen oder zu reaktivieren, auf ihre Stärken zu vertrauen, um wieder handlungsfähig zu werden und vorhandene Ressourcen zu entdecken, um selbstbestimmt und autonom das eigene Leben in die Hand nehmen zu können (Grawe & Grawe-Gerber, 1999; Lenz, 2011; McLeod, 2004; Nestmann, 2013;Warschburger, 2009).  

[1] Beziehungsmuster, die entscheidend durch die Beziehungserfahrungen im ersten Lebensjahr mit dem „Objekt“ Mutter geprägt sind (McLeod, 2004).

[2] „To sense the client’s private world as if it were your own, but without ever losing the “as if” quality – this is empathy…“ (Rogers, 2007, S. 243)